Anti-Gewalt-Woche 2020 "Wann ist ein Mann ein Mann?" – Kampagne wirbt für neue Männlichkeit
Die erste große Studie zu den Gewalterfahrungen von Frauen und Kindern während des Lockdowns im Frühjahr dieses Jahres zeigte, was viele Fachberatungsstellen befürchtet hatten: Rund 3% der Frauen in Deutschland wurden in der Zeit der strengen Kontaktbeschränkungen zu Hause Opfer von körperlicher Gewalt, 3,6 % wurden von ihrem Partner vergewaltigt. In 6,5 % aller Haushalte wurden Kinder gewalttätig bestraft. Noch deutlich höher lagen die Zahlen, wenn die Frauen in Quarantäne waren, die Familien finanzielle Sorgen hatten oder die Kinder unter 10 Jahren waren. Und besonders erschreckend: Nur ein sehr kleiner Teil der betroffenen Frauen nutzte Hilfsangebote (vgl. Studie von Janina Steinert, Professorin für Global Health an der Technischen Universität München aus 06/2020).
„Diese hohen Zahlen in einem Zeitraum von nur wenigen Wochen zeigen Handlungsbedarf“, sagt Bürgermeisterin Ulrike Schmidt. „Die Hilfsangebote müssen noch besser in der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Wir dürfen nicht nur die Opferperspektive einnehmen, sondern müssen uns mit den gesellschaftlichen Auslösern der Täter befassen, etwa den stereotypen Rollenbildern von Männern und Frauen.“
Gleichstellungsbeauftragte Svenja Gruber hat genau für diese Diskussion die Kampagne „Männlichkeit entscheidest Du“ für die Anti-Gewalt-Woche im November nach Henstedt-Ulzburg geholt, in der sich Männer aus Schleswig-Holstein für positive Männlichkeit und gegen Sexismus und Gewalt aussprechen. Der Landesverband Frauenberatung Schleswig-Holstein e.V. (LFSH) hat die Kampagne entwickelt, die inzwischen bundesweit viel Zuspruch erhält.
Dass sexualisierte Gewalt gegen Frauen inakzeptabel ist, steht heutzutage weitgehend außer Frage. Warum gibt es trotzdem so viele betroffene Frauen?
Die Frauennotrufe (Fachberatungsstellen bei sexualisierter Gewalt) wissen aus ihrer Arbeit: Gewalt gegen Frauen ist auch das Ergebnis überkommender patriarchaler Rollenbilder. Die Beraterinnen kennen das Verhalten der Täter und ihres Umfelds: Freunde, die sich gegenseitig in ihrem sexistischen Verhalten bestätigen und zu Kontrolle und Abwertung von Frauen ermutigen. Und sie kennen das Verhalten eines Umfelds, das wegsieht, verharmlost und allzu schnell entschuldigt, wenn Gewalt verübt wurde. „Männer sind halt so“ wird oft gesagt und damit unterstellt, dass Übergriffigkeit und Gewalt ein notwendiger Bestandteil von Männlichkeit sind.
„Die Vorstellung, dass ein Mann männlich ist, wenn er die Kontrolle und Oberhand über andere behält, ist noch immer weit verbreitet. Stark, potent und mächtig - diese sogenannte toxische Männlichkeit ist die Wurzel für Abwertung, Sexismus und letztlich körperliche Gewalt gegen Frauen“, sagt Katharina Wulf, Geschäftsführung des LFSH. „Wenn es Männern gelingt, sich von toxischer Männlichkeit zu emanzipieren, haben wir auch für Frauen viel gewonnen.“
Wie das funktionieren kann, dazu hat sich der LFSH gemeinsam mit acht Männern aus Schleswig-Holstein Gedanken gemacht. Für die Teilnehmer war klar, dass sie mit stereotyper Männlichkeit aufräumen wollen. Sie wünschen sich, dass Männer auch im persönlichen Umfeld aufstehen und sagen: „Gewalt ist nicht männlich.“ Mit ihren Slogans „Jede dritte Frau erlebt Gewalt? Männer, wir müssen reden!“ oder „Frauen brauchen keine Beschützer, sie brauchen Respekt!“ wollen die Männer zum Nachdenken anregen und ein Zeichen setzen gegen Sexismus und gegen Gewalt.
Einer dieser positiven Vorbilder ist Jens: Jens Ristedt ist immer wieder erschüttert davon, wie öffentlich sichtbare Frauen in digitalen Medien mit Vergewaltigungsandrohungen überhäuft werden: „Jeder von uns kennt diese Sprüche über Frauen aus dem eigenen Umfeld, sei es in den Sportumkleiden oder auch in den sozialen Medien. Wichtig ist mir, dass Männer reflektieren, welche Rolle sie sich selbst und Frauen damit zuschreiben. Gewalt ist nur das Ergebnis einer Kultur, die wir jetzt hinter uns lassen müssen.“
Die Kampagne wird durch das Ministerium für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung im Rahmen der Umsetzung der sogenannten Istanbul-Konvention unterstützt. Das ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (2011 in Istanbul beschlossen, seit 2018 in Deutschland in Kraft). Die Erkenntnis, dass Geschlechterstereotype ein Nährboden für Gewalt gegen Frauen sind, ist durch die Istanbul-Konvention als Gesetz festgeschrieben. Sie fordert insbesondere Männer und Jungen auf, eine aktive Rolle in der Verhinderung von geschlechtsspezifischer Gewalt einzunehmen.
Während der Anti-Gewalt-Woche vom 23. bis 25. November 2020 werden Roll-ups der Männer mit ihren Botschaften im Rathausempfang ausgestellt sein. Auch Informationsmaterialien zur Kampagne und zum lokalen Beratungsangebot liegen bereit.
Auch die Kampagne „Gewalt kommt nicht in die Tüte“, die gemeinsame Aktion des Landesinnungsverbands des Bäckerhandwerks, mit den Gleichstellungsbeauftragten und dem KIK-Netzwerk bei häuslicher Gewalt, findet wieder statt. In Henstedt-Ulzburg sind die Bäckereien Rathjen und Wagner seit vielen Jahren aktiv. Leider können in diesem Jahr aufgrund der Kontaktbeschränkungen durch Corona keine gespendeten Brötchentüten verteilt werden, aber während der Aktionswoche verkaufen diese beiden Bäckereien ihre Backwaren in den speziellen Brötchentüten, die mit dem Hilfetelefon bedruckt sind.
„Gewalt gegen Frauen können wir nur gemeinsam beenden“, sind sich Bürgermeisterin Ulrike Schmidt und alle Beteiligten einig.
Hilfe für Betroffene
Keine muss mit der erlebten Gewalt alleine bleiben.
Die Frauenberatungsstellen und –notrufe in Schleswig-Holstein bieten professionelle Unterstützung: www.lfsh.de/beratungsstellen
Rund um die Uhr ist das Bundeshilfetelefon Gewalt gegen Frauen erreichbar unter 08000 116 016 und berät in 17 Sprachen.
Vor Ort berät der Frauentreffpunkt in Henstedt-Ulzburg und Kaltenkirchen: telefonische Erreichbarkeit Mo/Mi/Fr 10-12h und Di 16-19h und Do 15-17h
Hintergrundinformationen zu sexualisierter Gewalt gegen Frauen
Sexualisierte Gewalt hat viele Formen. Dazu gehören Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, sexuelle Belästigung und sexueller Missbrauch.
Das Motiv für sexualisierte Gewalt ist nicht Sexualität, sondern Macht. Sexualisierte Gewalt ist auch Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse, in denen Männer ihre Machtstellung gegenüber Frauen sichern, indem Sexualität gezielt als Mittel zur Diskriminierung, Demütigung und Machtausübung eingesetzt wird.
Sexualisierte Gewalt ist mit Diskriminierung verbunden, welche sich beispielsweise in der Werbung und in den Medien zeigt – etwa durch sexualisierte Darstellungen von Frauen oder das Bild von Männern, die Frauen auf übergriffige Art „erobern“ müssen.
- 60% aller Frauen in Deutschland erleben im Lauf ihres Lebens mindestens eine Form von sexueller Belästigung (z.B. obszöne Witze, „zufällige“ Berührungen sowie Angrapschen insbesondere an Brust und Po).
- Sehr häufig erleben Frauen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.
- 8% aller Frauen in Deutschland haben strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt wie Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung durch einen Partner erlebt, weitere 7% durch eine andere Person als den Partner.
- 24% aller Frauen in Deutschland haben seit ihrem 15. Lebensjahr Stalking erfahren.
Quelle: Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA): „Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung" (2014)